Max Wertheimer (1924)Über Gestalttheorie |
Vortrag vor der KANT-Gesellschaft, Berlin, am 17. Dezember 1924. Abgedruckt in Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1, 39-60 (1925) und als Sonderdruck: Erlangen: Verlag der philosophischen Akademie (1925). Reprint in: GESTALT THEORY, Vol. 7 (1985), No. 2, 99-120, Opladen, Westdeutscher Verlag.
Web-publishing erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Prof. Michael WERTHEIMER (Boulder, Colorado, USA).
Gestalttheorie ist etwas mitten aus konkreter Arbeit Erwachsenes; erwachsen in dem Arbeiten an bestimmten Problemen der Psychologie, der Völkerpsychologie, der Logik, der Erkenntnistheorie. Ganz konkrete Probleme sind es, die den Boden gegeben haben; immer mehr konvergierte die Arbeit zu einem Grund- und Hauptproblem.
Wie ist die Grundsituation? - Eine Situation, die vielen Forschern, vielen Philosophen der Jetztzeit in ganz ähnlicher Weise da war, vielen auch von den jungen Menschen, auch von den jüngsten, immer wieder entsteht - die Grundsituation: man kommt von lebendigem Geschehen zur Wissenschaft, sucht in ihr Klärung, Vertiefung, Hineindringen, Vorwärtsdringen in das Wesentliche dessen, was da vorgeht, und findet vielfach zwar Belehrungen, Kenntnisse, Zusammenhänge und fühlt sich nachher ärmer als vorher. Wie ist es zum Beispiel in der Psychologie? Man kommt von irgendeinem starken Lebendigen, das in einem vor sich gegangen ist, schlägt etwa nach, was die Psychologie, was die Wissenschaft für diese Dinge sich erarbeitet hat, liest und liest (oder beginnt selbst in der Art zu forschen, wie sie durch lange Zeit allein üblich war) und hat nachher das klare Gefühl: man hat vieles in der Hand und eigentlich doch nichts. Irgendwie ist das, was einem das Wichtigste, Wesentlichste, das Lebendige der Sache schien, bei diesen Vorgängen verloren gegangen. Ein ganz spezielles sei erwähnt. Wer hat nicht erlebt, was es heißt: ein Schüler begreift! Wer hat nicht selbst erlebt, wie solches Begreifen vor sich geht, wenn einem zum ersten Male ein mathematischer Zusammenhang etwa aufgeht, ein physikalischer. Man schlage doch nach, was die Psychologie bis vor kurzem, was die Lehrbücher der Pädagogik, der pädagogischen Psychologie, zu diesem Kapitel sagen. Ich empfehle Ihnen, das wirklich einmal zu tun und zwar unter diesem Gesichtspunkt. Man erschrickt vor der Armut, der Dürre, der Lebensferne, vor dem völlig Unwesentlichen alles dessen, was dazu gesagt wird. Da hört man von der Begriffsbildung, von der Abstraktion, von der Verallgemeinerung, dem Klassenbegriff, von Urteilen, von Syllogismen, etwa noch von Assoziationen, dann kommt etwa noch ein so schönes Wort, wie schöpferische Phantasie, wie Intuition, Begabung und dergleichen, worunter man sich, wenn man will, die allerschönsten Sachen denken kann, die aber, wenn man streng zugreift, wenn man das Schöne des strengwissenschaftlichen dabei haben will, sich meist als bloße Benennungen eines Problems ohne irgend eine sachliche Erfassung des Entscheidenden, ohne ein Tieferhineindringen entpuppen. Wir haben ja jetzt eine ganze Reihe von solchen Begriffen in der Wissenschaft, die dann auch in der gebildeten Welt Mode geworden sind und wobei sich doch erfreulicherweise Schönstes denken läßt: wie Persönlichkeit, Wesen, Anschauung, Intuition und all solche schönen Dinge. Will man aber nun tiefer hineindringen, dann versagt solches in der konkreten Leistung meist vollkommen.
Das ist eine Grundsituation, die sehr vielen da war, und immer noch vielen geschieht. Wie hat man sich damit abgefunden? Es ist ein charakteristisches, ein sehr wichtiges Merkmal unserer geistigen Entwicklung gewesen, daß in den letzten Jahrzehnten allenthalben, an allen Ecken und Enden, in den verschiedensten Wissenschaften dasselbe Problem irgendwo aufgetaucht ist. Wie hat man sich damit abgefunden? In verschiedener Weise. Sie kennen alle die großen Versuche, mit dieser merkwürdigen und eigentlich trübseligen Situation fertig zu werden. Da ist zum Beispiel der Versuch radikaler Trennung von Wissenschaft und Leben: die Wissenschaft hat eben nichts mit diesen schönen Dingen zu tun, sagt man, die Wissenschaft ist etwas streng Nüchternes, und du sollst nicht von der Wissenschaft Dinge verlangen, die sie nicht leisten kann. Sie erinnern sich an die historische Zeit der Verzweiflung an der Wissenschaft, man hat gemeint, dem »Rationalismus« und dem »Intellektualismus« der Wissenschaft sich dadurch zu entziehen, daß man feste Grenzen für die Wissenschaft gesteckt hat: sie kann nicht weiter hinaus, mit all diesen anderen Dingen hat sie eben nichts zu tun. - Und solche Stellungnahme zeigte sich bei den stärksten, besten Vertretern in einer wahrhaft grandiosen Resignation.
Eine andere Art, sich mit diesem Problem abzufinden, liegt vor in dem Versuch der Trennung naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methoden. Man sagt: Ja, das, was du hier unter Wissenschaft verstehst, ist notwendig so in der Wissenschaft, aber nur in der sogenannten exakten, in der Naturwissenschaft, und es gibt ein anderes Gebiet der Wissenschaft, das ist die Geisteswissenschaft, die muß sich ihre Methoden im Gegensatz zur Naturwissenschaft erringen, und wir wollen in der Geisteswissenschaft auf die an sich ja schönen Dinge der Entscheidbarkeit, des strengen Vorwärtsdringens, der exakten sachlichen Klärung verzichten, wir müssen es; es sind eben ganz andere Kategorien, die bei der Geisteswissenschaft in Frage kommen. - Das sind zwei Beispiele. Es gibt noch eine ganze Reihe von anderen Stellungnahmen; diese Beispiele mögen genügen.
Was ist die Wurzel des Sachverhalts? Ist es schon wirklich sicher so, daß überall in der Wissenschaft notwendig dies herrscht? Ist die exakte Wissenschaft, die Naturwissenschaft tatsächlich notwendig so, ist sie überhaupt wirklich so, wie das vorhin kurz vorausgesetzt wurde? Möchte es nicht etwa so sein, daß eine gewisse Anschauungsweise, gewisse Grundthesen, eine gewisse Arbeitsweise, eine gewisse Einstellung zu dem, wie gearbeitet wird, in der Wissenschaft allenthalben vorhanden und zu großer Blüte gebracht, doch nicht notwendig für diese Wissenschaft überhaupt ist ? Daß sie vielleicht schon in sich Momente enthält, ganz anders gerichtet, die nur immer wieder erwürgt werden durch eine scheinbar notwendig alles beherrschende Methode ? Ist es nicht vielleicht so, daß diese Methode gewissen Sachverhalten adäquat, bei anderen Sachverhalten versagt? Ist es nicht so, daß etwas an der Grundeinstellung der früheren Wissenschaft ist, was sie vielfach, nicht immer, blind macht gegen gerade das Wesentliche, gerade das Lebendige, gerade das Entscheidende dessen, was uns im Leben und beim lebendigen Anschauen der Begebenheiten entgegentritt?
Die Gestalttheorie versucht nicht, das Problem zu verkleistern oder zu umgehen, versucht auch nicht, das Problem dadurch zu erledigen, daß man sagt: so ist die Wissenschaft, das Leben ist anders, ist nicht so, daß man sagt: Ja, bei den geistigen Dingen gibt es Anderes als bei den anderen Dingen, daß man das Heil in Material-(Gebiets-)trennung sucht. Sie versucht an einem entscheidenden Punkt in das Innere des Problems hineinzukommen und fragt: ist nicht an diesem bestimmten Punkte in dem Herangehen, in der Grundthese, in der Grundvoraussetzung und in der Methode des Hineindringens etwas, was dogmatisch für alle Wissenschaft schien und was es in Wirklichkeit gar nicht ist? Lange Zeit schien es selbstverständlich und ist für die europäische Erkenntnistheorie und Wissenschaft höchst charakteristisch gewesen, daß Wissenschaft überhaupt bloß auf folgendem Wege gemacht werden könne: Habe ich irgend etwas, was ich wissenschaftlich zu durchforschen, zu begreifen vorhabe, dann muß ich es zunächst einmal als Komplex begreifen, als etwas, das ich zerlegen muß, in seine Stück-Elemente zerlegen muß, die Gesetzlichkeit zwischen solchen Elementen studieren muß, und dann komme ich zur Lösung meines Problems, indem ich durch die Zusammensetzung des so elementar Vorhandenen und durch die Ansetzung der Gesetzlichkeiten zwischen den einzelnen Stücken die Komplexion herstelle.
Was ich da sage, ist nichts Neues, es ist etwas, was in den allermeisten Köpfen der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer wieder Problem wurde. Ich will es kurz dahin charakterisieren, daß ich sage: Grundvoraussetzung schien das Zurückgehen auf Elemente, auf Stücke, das Zurückgehen auf stückhafte einzelne Beziehungen und gesetzliche Beziehungen zwischen solchen Einzelstücken, Elementen, die Analyse und die Synthese durch die Zusammensetzung von Stücken und Elementen zu größeren Komplexen.
Die Gestalttheorie glaubt nun, einen entscheidenden sachlichen Punkt für das Problem darin gefunden zu haben, daß sie erkennt: es gibt Zusammenhänge, Gegebenheiten anderer - formal anderer - Art. Nicht nur in der Geisteswissenschaft. Man könnte das Grundproblem der Gestalttheorie etwa so zu formulieren suchen:
Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo - im prägnanten Fall - sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen.
Ich habe Ihnen hier eine Formel gesagt und könnte nun eigentlich enden. Denn Gestalttheorie ist dieses, nichts mehr und nichts weniger. Dabei geht es aber so: auch diese Formel wird heute von verschiedenen Seiten - in Wirklichkeit oft recht verschieden - als Lösung des Problems gelehrt, in sehr verschiedenem Sinne, und ich könnte jetzt - und ich glaube wohl, daß manche, die hierher kamen, das erwartet haben - mich damit befassen - wie es bei Philosophen ja so oft üblich ist -,daß ich auseinandersetze: was sind die übereinstimmenden Punkte, die, zum Teil, sehr schönen Konvergenzen, was sind die Trennungspunkte zwischen verschiedenen Meinungen dieses oder solchen Satzes. Ich habe damit begonnen, daß die Gestalttheorie aus der Arbeit erwachsen ist. Sie ist nicht bloß aus der Arbeit erwachsen, sondern sie ist für die Arbeit da. Es handelt sich hier nicht darum, daß ein Problem an die Wissenschaften herangebracht wird, sondern darum, daß in der konkreten wissenschaftlichen Arbeit dieses und solches gesehen wird - nicht dieses und solches gesehen wird, sondern erst überhaupt herausgearbeitet wird, was an konkreten solchen inneren Gesetzlichkeiten da ist, wie solche sind. Das Problem erledigt sich also nicht so, wie das bei manchen trübseligerweise der Fall ist, daß ich charakterisiere und sage: es gibt solche und solche Möglichkeiten, und nun wollen wir schön systematisieren und in Fächer einräumen und können die Welt überschauen - sondern es handelt sich darum, mit dem Geist nun auch der anderen Methode - ganz geleitet durch das sachliche der Dinge - da hineinzudringen, vorwärtszudringen zu dem, was nun wirklich vorliegt. Das ist keine These, in Allgemeinheiten zu erörtern, sondern das ist ein Wollen zum Vorwärtsdringen, ein Dynamisches, eine Aufgabe für die Wissenschaft.
Es ist noch eine zweite Schwierigkeit da, die ich kurz illustrieren kann an einem Beispiel unserer schönen exakten Wissenschaft: Wenn ein Mathematiker Ihnen einen Satz zeigt, könnte man den etwa so empfangen: das kann man schön nachhause tragen, kann katalogisieren, kann etwa sagen: dieser Satz gehört in das Gebiet dieser und ähnlicher historischer Sätze, gehört in dieses klassifikatorische Teilgebiet, - ich glaube, kein Mathematiker in der Arbeit wird sich mit so etwas befassen, Philosophen sind leider Gottes durch manche Jahrzehnte mit solchen Dingen vielfach in erster Linie befaßt gewesen - sondern der Mathematiker wird sagen: Du begreifst den Satz gar nicht, kannst ihn nicht begreifen, wenn du ihn nicht siehst in seiner Funktion, in seiner Leistung, in seinen Konsequenzen; du hast nichts in der Hand, wenn du bloß eine Formel in der Hand hast - etwa im Gegensatz zu anderen - ohne eine dynamische funktionale Beziehung mit dem Ganzen. Das ist nun bei der Gestalttheorie im Extrem so, und daraus folgt ganz simpel, daß es eigentlich ein höchst mißliches, geradezu zum Mißlingen verurteiltes Unternehmen ist, über Gestalttheorie im Verlauf von einer Stunde irgend Aufklärung schaffen zu wollen. Es ist viel schwieriger, das hier zu tun, als es bei einem mathematischen Satz wäre, wenn auch die Gestalttheorie in ihrem Ansatz ebenso streng gemeint ist wie dieser, weil wir ja. in der Philosophie leider nicht in der glücklichen Lage sind, wie bei der Mathematik, wo jeder unter jeder Funktionsbeziehung wenigstens einigermaßen, auf das Entscheidende gerichtet, dasselbe versteht. Alle Begriffe, die hier verwandt werden. Teil, Ganzes, Von-innen-her-bestimmt - das sind Dinge, die in der philosophischen Diskussion endlos belastet sind, die von jedem anders verstanden werden, und leider auch dadurch besonders belastet, daß man sie unter dem Gesichtspunkt zu katalogisierender Meinungen sieht, nicht unter dem Gesichtspunkt zu leistender Arbeit des Eindringens in das Gegebene, daß man vielfach meint, so wie über gewisse »philosophische« Probleme auch über diese Probleme rein vom grünen Tisch aus, fern vom Wirklichen, fern von positiv vorwärtsdringender wissenschaftlicher Arbeit, entscheidend sprechen zu können.
Was kann ich also tun? Ich kann in dieser Lage nicht recht etwas anderes tun, als versuchen, Sie ein wenig in die Arbeitsstube zu führen und Ihnen durch kurze Hinweise anzudeuten zu suchen, wie man an der Arbeit ist, wie in verschiedenen Problemgebieten, in verschiedenen Wissenschaftsgebieten dies Problem von der Gestalttheorie angefaßt wird.
Nochmal: das Problem, so wie ich es jetzt kurz geschildert habe, die Problemlage und die Situation, ist ein Problem nicht spezialwissenschaftlicher Natur, ist im Grunde ein Problem unserer Zeit. Gestalttheorie ist nicht etwas, was plötzlich und unvermutet vom Himmel gefallen ist, sondern an allen Ecken und Enden, von allen Wissenschaften her, auch von den verschiedensten philosophischen Stellungnahmen her konvergiert alles, drängt alles zur Entscheidung dieser - wie die Gestalttheorie meint - nun prinzipiellsten Frage. Historisch will ich herausgreifen ein Stück aus der Geschichte der Psychologie.
In der Psychologie war es so: wenn man vom lebendigen Erleben gekommen ist und nachgesehen hat: was weiß die Wissenschaft, was klärt mir die Wissenschaft? Dann hat man gefunden, es gibt Elemente, Empfindungen,Vorstellungen, Gottseidank auch noch Gefühle, Willensmomente, es gibt auch Gesetze für diese, bitte sich nur aus diesen Sachen das zusammenzusetzen, was du eben wolltest oder hattest. Mitten in der Arbeit der Psychologen an Problemen, die sich von hier aus, von dieser Grundeinstellung aus ergaben, tauchten nun immer mehr Schwierigkeiten auf, bestimmte Probleme, die schließlich durch einen glücklichen Griff eines Psychologen - ich meine Ehrenfels - in einer sehr scharfen Weise in den Vordergrund traten. Es war ein scheinbar simples Problem, ein Problem, das dem, der von außen, vom Leben her an die Wissenschaft herankommt, eigentlich zunächst unbegreiflich ist, deshalb, weil er gar nicht versteht, wie man so was fragen kann. Es war folgender Sachverhalt:
Wir sind imstande, uns eine Melodie zu merken, sie wiederzuerkennen, oder eine optische Figur. Alles psychologische knüpft sich an die Summe der Elemente. Es ist kein Wunder, daß, wer die Melodie ein zweites Mal hört, sie mit dem Gedächtnis - wie wir wissen, gibt es das - wiedererkennt. Von einer sehr einfachen Frage aus war nun die Sachlage plötzlich völlig undurchsichtig geworden: Ehrenfels besann sich im Anschluß an Mach und andere daran, daß eine Melodie auch dann wiedererkannt werde, wenn sie transportiert vorgeführt wird. An der Summe der Elemente ist nichts gleich geblieben und ich erkenne doch die Melodie als die identische, ja, ich weiß u. U. gar nicht, daß man mir andere Elemente vorgeführt hat - zum Beispiel beim Transponieren von C-dur nach Cis-dur merken die meisten gar nicht, daß summenmäßig etwas total anderes da war. Worin liegt das?
Dafür gab es verschiedene ad hoc Hilfsmittel. Man hat versucht, die Situation zu retten; durch ad hoc Thesen; Ehrenfels in einer weitgreifenden, andere Psychologen in anderer Weise. Wenn man sich heute die These von Ehrenfels überlegt, so erstaunt man darüber, wie solche im Positiven doch nur ein x hinzufügende These möglich war, und zu gleicher Zeit doch über die Kühnheit dieses Mannes, der zu solcher These gegriffen hat, aus der Strenge der wissenschaftlichen Verantwortung. Worauf kommt die These Ehrenfels' heraus, wenn man sie streng faßt? Wenn eine Melodie aus sechs Tönen besteht, und ich reproduziere sie, indem ich sechs ganz andere Töne spiele, und sie wird wiedererkannt - was bleibt übrig? Diese sechs Elemente sind zunächst sicher als Summe da ... ; aber neben diesen sechs Elementen sei ein Siebentes anzunehmen, das ist die Gestaltqualität. Das siebente, das ist das, was es mir möglich macht, die Melodie wiederzuerkennen. So seltsam uns diese Lösung erscheint, es gibt in der Geschichte der Wissenschaft, auch in der Geschichte der Physik grandiose Beispiele dafür, wie gerade dadurch, daß der Wissenschaftler ganz kühn zu einer krassen - aber einer klar geraden - Annahme greift, wo er aus der wissenschaftlichen Verantwortung heraus irgendeine Annahme machen muß - es gibt oft solche Situationen, wo dann die weitere Entwicklung den größten Vorteil daraus gezogen hat. Auch wenn sich zeigt, daß das Positive der These so die Sache selbst noch nicht entscheidend vorwärtsbringt. - Es gab andere Lösungsthesen.
Eine Lösung sah so aus, daß man sagte: beim regulären Transponieren ist etwas erhalten, nämlich die Intervalle, die Relationen. Man wurde gedrängt, neben den Elementen so etwas Merkwürdiges wie »Relationen« anzunehmen - als Stück neben ihnen. Das tat man, bis sich nun herausstellt,daß diese Annahme in Wirklichkeit nicht hilft. Denn, z. B., das Grundgesetz für den Sachverhalt, das besagt: Du kannst etwas in allen seinen Stücken ändern, und es ist identisch; du kannst sehr wenig daran ändern und hast es total verändert - dies Grundgesetz wiederholt. sich in gewisser Weise noch auch wieder bei den Relationen. Man kann auch die Relationen recht verändern, und jedermann spürt doch, erkennt doch dieselbe Melodie; und man kann die Relationen in einem empfindlichen Punkte sehr gering ändern und jeder sieht, da ist etwas ganz anderes geworden, und es wird nicht wiedererkannt. Das sind alles Dinge, die ich hier freilich bloß kurz andeuten kann.
Man hatte auch zu anderen Hilfsmitteln gegriffen - alle jener bekannten Art, die in allen Wissenschaften wiederkehrt und in der Geschichte der Philosophie bei ähnlichen Problemlagen oft wiedergekehrt ist, daß man gesagt hat: Zu den Gegebenheiten - Stücksumme treten eben noch »irgend welche« »höheren Prozesse« hinzu, die an der Summe des Gegebenen ansetzen, und die leisten das.
So war die Lage, bis die Gestalttheorie sich die radikale Frage stellte: Ist es denn überhaupt wahr, daß, wenn ich eine Melodie höre, ich dann die Summe der einzelnen Töne als primär zu sehende Grundlage - die einzelnen Töne als Stücke - jedenfalls habe; ist es vielleicht nicht umgekehrt so, daß das, was ich da überhaupt habe, was ich auch an dem Ort der einzelnen Töne habe, was da in mir entsteht, ein Teil ist, der sich auch in sich bestimmt von dem Charakter des Ganzen? Daß das, was mir in der Melodie gegeben ist, sich nicht irgendwie aufbaut (durch irgendwelche Hilfsmittel) sekundär auf der Summe der einzelnen Stücke an sich, sondern daß das, was im einzelnen vorhanden ist, entsteht, schon radikal abhängt von dem, wie sein Ganzes ist. Daß das Fleisch und Blut eines Tones in der Melodie schon von seiner Rolle in der Melodie abhängt, daß ein h als Vorhalt zum c etwas radikal anderes ist als das h als Tonika, daß es zum Fleisch und Blut der Gegebenheiten gehört, wie, in welcher Rolle, in welcher Funktion sie in ihrem Ganzen sind.
Das konnte alles nur in Verkürzung hier gesagt werden.
Ich möchte jetzt an einer Reihe in Kürze andeuten, zu was für Problemen solche Fragestellung weiter führt. Ich knüpfe an, und zwar absichtlich, an ein möglichst bescheidenes, möglichst simples Problem der Psychologie, nämlich an die Schwelle. Seit Alters gilt es: einem Reiz entspricht eine bestimmte Empfindung, diese Empfindung ist dem Reiz konstant zugeordnet - wenn ein bestimmter Reiz da ist, habe ich prinzipiell - eine bestimmte - ihm zugeordnete - Empfindung; wenn die Reize verschieden sind, über ein bestimmtes Maß verschieden, habe ich zwei verschiedene Empfindungen. Man hat viele Untersuchungen darüber gemacht; diese Schwellenuntersuchungen gehören zu den gründlichsten und langweiligsten in der älteren Psychologie. Bei den vielen Untersuchungen traten Schwierigkeiten auf, immer stärker, deren man Herr zu werden suchte dadurch, daß man sagte: Ja, so eine Sache hängt ab von allerlei Faktoren höherer Art, Urteil, Täuschung, Aufmerksamkeit usw. usw. - diese in der charakteristischen Art aller der Behelfsmittel der älteren Psychologie. Bis man die radikale Frage gestellt hat: Liegt es nicht etwa so, daß es gar nicht wahr ist, daß ich »bei einem bestimmten Reiz eine bestimmte Empfindung habe», sondern daß dort dann das entsteht, was an diesem Teil seines Ganzen zu entstehen Tendenz hat? Das ist eine einfache Formulierung. Sie führt zum Experiment; es zeigt sich im exakten Experiment, daß die Frage, ob ich zwei Farben oder eine Farbe sehe, extrem von der figuralen Ganzbedingung - und anderen Ganzbedingungen - des Feldes abhängt. Man kann bei denselben Stück-Reizen einerseits in einer erstaunlich extremen Weise vollständig gleiches erzeugen - homogenes - bei bestimmten figuralen Ganzbedingungen, die von innen her auf die Einheit drängen, und bei anderen figuralen Ganzbedingungen, die von innen her auf die Trennung, auf ein Sichsondern, auf ein Sichabheben drängen, zwei verschiedene Farben. Und es entsteht die Aufgabe, die Art jener »Ganzbedingungen« - in ihrer Wirksamkeit - zu erforschen.
Ein Schritt weiter: es ergibt sich die Frage: kann man nicht allgemeiner nun prüfen, ob das, was ich in einem Feldteil sehe, davon abhängt, Teil welches Ganzen es ist? Davon, wie es im Ganzen steht, was für eine »Rolle« es als Teil in diesem Ganzen spielt? Wieder das Experiment zeigt: das ist der Fall. Was ich da meine, sind Dinge, die jeder gute Maler längst - im Gefühl - weiß. Es sind keine eigentlichen Neuigkeiten, obzwar kein Wissenschaftler vor den Ergebnissen wohl bedacht hat, daß die Abhängigkeit so kraß sein werde, daß man gesetzlich z. B. zwei Feldteile, den einen in einen helleren, den anderen in einen dunkleren verwandeln kann, wobei stückhaft reizmäßig dasselbe vorliegt, bloß dadurch, daß man die Ganzbedingung verändert.
[Auf die Komplikationen mit der Kontrasttheorie kann ich hier nicht eingehen. Die übliche Kontrasttheorie war für solches u. E. im Grunde eine grandiose Flickung vom Boden der Summativtheorie her, und es zeigt sich immer mehr, daß die zunächst sehr plausible Kontrasttheorie hier auf Grund dieses Sachverhalts versagt; es handelt sich nicht um die Summe von »Indukten« 1, sondern um Gestaltbedingungen.]
Ein Schritt weiter. Ich sage: Für das, was man an einer Stelle sieht oder hört, in einem Gesichtsfeld, einem Feldteil sieht, ist entscheidend, wie die Ganzverhältnisse sind. Der Mensch ist einem Felde gegenüber und was in dem Felde geschieht, hängt nun - und hier ist eines der schönsten Stücke dieser Arbeit - im wesentlichen damit zusammen, daß das Feld dahin tendiert, sinnvoll zu werden, einheitlich zu werden, von innerer Notwendigkeit beherrscht zu werden, und daß man oft erstaunlich starke Mittel verwenden muß, um ein nach dem sinnvollen tendierendes Feld, zu guten Gestalten tendierendes Feld zu zerstören bzw. andere Gestaltung zu erzwingen.
Dies Feld hat von seinen Ganztendenzen her auch seine Dynamik, und das Dynamische, das in der Psychologie vorher fast gar nicht vorgekommen war, drängte nun extrem vorwärts. Es haben sich die merkwürdigsten und dabei doch einfachsten Zusammenhänge hier gezeigt. Von all diesem will ich aber jetzt nicht sprechen, sondern ich will kurz ein Stück in demselben Sinne weitergehen. Da bin ich mit diesem Ich zunächst ein Teil in dem Feld. Ich bin nicht von vornherein, wie seit alters so oft gelehrt wird, prinzipiell ein Ich gegenüber anderen, sondern das Werden eines Ich gehört zu den merkwürdigsten und seltsamsten Dingen, die es gibt, wiederum Dinge, die sich, wie es scheint, von Ganzgesetzlichkeiten her beherrschen. Ich bin nun, sage ich, Teil in diesem Felde. Es ergibt sich von hier aus die Fragestellung: was geschieht denn, wenn ich Teil in dem Felde bin? Bestimmt sich mein Verhalten typisch durch irgendwelche stückhaften Momente in diesem Felde wie im Prinzip durch Assoziationen, durch stückhafte Erfahrungen und dergleichen? Die Experimente scheinen immer klarer zu zeigen: Nein, das ist nicht der Fall, sondern auch hier wieder sind es typisch Ganzgesetzlichkeiten, und die Ganzgesetzlichkeiten sind es, welche bedingen, daß das menschliche Wesen sich, oft, sinnvoll verhält.
Ein Stück weiter. Dies Feld ist nicht richtig beschrieben als wären da primär Empfindungsinhalte in Summe. Auch hier wiederholt sich dieselbe Sache: primär sollten Stücke da sein, Empfindungen da sein. Betrachtet man die Sachlage von hier, so ergäbe sich die seltsame Konsequenz, daß bei Kindern, bei Naturvölkern, bei Tieren, zunächst also bloß Stück-Empfindungen da sein werden; zu diesen kommt dann etwas Höheres noch da zu, noch Höheres und dergleichen. Die Forschung hat überall, wo man gesucht hat, das Entgegengesetzte gezeigt. Nur Selbsttäuschung hat bei einigen Völkerpsychologen z. B. noch aufrecht erhalten, irgendwo werde die stückhafte Grundlage des Psychologischen auffindbar sein -; man sah sich gedrungen, zu sagen: Ja, in Wirklichkeit ist das lebendige Psychologische ein Strom des Geschehens schon im primär Einfachen; aber ... wenn wir Wissenschaft treiben wollen, wird oft hinzugefügt, dann müssen wir ja doch analysieren, auf die Elemente gehen; wer wollte denn wissenschaftlich versuchen, ein solches Fließendes, Strömendes irgend zu fassen? Und dabei tut solches die Physik dauernd! Und dabei ist es bloß ein altes erkenntnistheoretisches Vorurteil, daß die Physik rein mit Stücken arbeite, sondern gerade dies: das Fließende, das Strömende, von Ganzgesetzlichkeiten Beherrschte, ist Arbeitsgebiet der Physik seit mehreren Jahrzehnten.
Sieht man sich das von da aus an, so kommt immer näher, daß das, was primitiv ist, was eigentlich zu Grunde liegt, was voran liegt, mit unserem Spätderivat, mit unserem Kulturprodukt von Empfindungen wenig zu tun hat. Tausendmal besser haben das die Romantiker erfaßt, wenn sie von Empfindung in ihrem Sinn gesprochen haben und dabei wahrhaftig nicht eine Rotnuance gemeint haben. Hat denn typisch ein Kind eine Rotnuance im gemeinten Sinn der Empfindungsqualität, ein Naturmensch? Das Aufreizende, Fröhliche, das Starke, das Dahinströmende kommt dem Vorhandenen sicher viel näher, im einfachsten Menschen schon; mit seiner Reaktion.
Ich sagte, der Mensch ist ein Teil im Felde, und ist aber ein Teil, der seinen Ganzcharakter und in diesem seine Reaktionen hat. An die Stelle des Zusammenhanges: Reiz als stückhafte Erregung eines peripheren Nerven auf der einen Seite und stückhafte Empfindung auf der anderen Seite - an Stelle dieses Zusammenhanges tritt mit Notwendigkeit der Zusammenhang: Tangierung der Feldbedingungen, der Lebensbedingungen, Tangierung dessen, was einem Wesen Umfeld ist und Reaktion dieses Wesens; Reaktion primär nicht im Sinne von Haben eines konstatierbaren Inhaltes und Vollziehen einer Stückbewegung, sondern Reaktion primär im Sinne einer Habitusveränderung, eines Verhaltens, eines Wollens, eines Strebens, eines Fühlens, und nicht im Sinne der Summe von all solchem, sondern im Ganzen von diesen.
Ein Stück weiter. Der Mensch ist nicht bloß - ich kann freilich all diese schwierigen Probleme bloß ganz kurz andeuten; hoffentlich gelingt es mir aber, dabei klar zu machen, wie alles, was ich hier sage, mit konkreter wissenschaftlicher Forschung und vielfach auch experimenteller Entscheidung notwendig zusammenhängt - der Mensch ist nicht bloß so Teil eines Feldes, sondern der Mensch ist auch Teil und Glied in dem Zusammen mit Menschen. Wenn Menschen zusammen sind, etwa in einer bestimmten Arbeit zusammen, dann ist das unnatürlichste Verhalten, das erst in späten Fällen, oder in krankhaften Fällen vorhandene Verhalten, daß da mehrere Ich zusammen da sind, sondern diese verschiedenen arbeiten gemeinsam zusammen, jeder als sinnvoll funktionierender Teil des Ganzen unter normalen Umständen. Denken Sie an ein Zusammenarbeiten von Eingeborenen in der Südsee, denken Sie an Kinder beim Zusammenspielen. Es sind meist sehr spezielle Umstände, die bewirken, daß aus einem Menschen ein Ich wird gegenüber und im Gegensatz zu den anderen, Umstände, die, wenn man von bestimmten Voraussetzungen, die sich bei der Gestalttheorie ergeben haben, ausgeht, z. B. zur Vermutung führen: es müßten, wenn ein guter Gleichgewichtszustand zwischen einem Menschen und denen, mit denen er zusammen ist, aus gewissen äußeren oder inneren Gründen nicht durchsetzbar ist, bestimmte Gleichgewichtsstörungen auftreten, bestimmte Surrogatgleichgewichte im Extrem auftreten, die das psychische Sein des Menschen dann verändern. Das führte dann z. B. zur Hypothese, daß ein großes Gebiet psychischer Erkrankungen, für das bisher eine eigentliche Theorie überhaupt noch nicht recht vorliegt, vielleicht Konsequenz solcher Grundgesetzlichkeit ist. Das mir beispielsweise als Hinweis darauf, wie die Fragen, die ich hier besprechen mit konkreten Entscheidungen zusammenhängen und der strengen Entscheidungsmethode der Wissenschaft immer in jedem Satz unterliegen müssen.
Ich könnte das noch weiterfahren. Diese Problemreihe fährt in klarer Weise zu Problemen der Kultur- und Geistesgeschichte; und führt weit über das hinaus, was man sonst Wissenschaftsgebiet nennt. Ich will es mir versagen, ich will kurz noch anderes illustrieren. Ich sprach vorhin davon, daß der Reizbegriff, das Zusammensein zwischen Reiz und Empfindung, durch diese Fragestellung und durch die Ergebnisse radikale Veränderungen erleiden muß, Veränderungen im Sinne einer Bereicherung und Verwesentlichung. Das ist nun nicht bloß der Fall in der Psychologie, sondern entsprechendes ist ebenso der Fall in der Physiologie, in den biologischen Wissenschaften. Auch hier hat man damit sich zu helfen versucht, Maschinchen neben Maschinchen - in Summe - zu setzen, um nur irgendwie dessen Herr zu werden, was bei einem lebendigen Organismus sinnvoll oder wie man manchmal sagt, zweckmäßig funktioniert. Auch hier hat man heute vielfach noch den Begriff des Reflexes als einer rein sinnlosen Koppelung von zwei Stückdingen, die gar nicht miteinander zusammengehören. Der Stück-Reiz bewirkt »,mechanisch, automatisch« diesen oder jenen Stück-Effekt - prinzipiell völlig beliebig -.
Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach, wie sich jetzt immer mehr herausstellt, schon bei primitivsten Lebewesen, bei Einzellern nicht der Fall. Auf diesem Gebiete verdankt man sehr viel Klärung den Arbeiten von Driesch, der des Grundproblemes, von dem wir sprechen, freilich in anderer Weise Herr zu werden sucht. Im Grunde ist es ja die These des Vitalismus, die auf Grund derselben Probleme entsteht, die aber nach dem Erachten der Gestalttheorie den Fehler begeht, daß sie das Problem zu lösen sucht dadurch, daß sie an die vorhandenen blindgesetzlichen naturwissenschaftlichen Vorgänge, die man so vermeint, etwas anderes - selbst wieder eigentlich unbehandelbares - daransetzt, hinzufügt, ohne zu fragen, ob es schon sicher wahr ist, daß die physikalischen anorganischen Gesetzmäßigkeiten überall diesen stückhaft blind gekoppelten mechanischen Charakter tragen, den viele Erkenntnistheoretiker als das einzig Gegebene der Physik erachten. Ich will hier nur darauf hinweisen - hier liegt eine klar entscheidende Leistung vor - daß es Köhler 2 gelungen ist, nachzuweisen, daß auch in der anorganischen Physik allenthalben Gesetzmäßigkeiten vorliegen, die echte Ganzgesetzmäßigkeiten sind, wo sich das, was in einem Teile geschieht, von der inneren Ganzstruktur, von den inneren Ganztendenzen her bestimmt, nicht umgekehrt. Ich möchte auch nur kurz darauf hinweisen, daß es schon gelungen ist, Konsequenzen von hier auf die Biogenese, auf die Entwicklung der Lebewesen zu ziehen. Was mir hier in diesem Zusammenhange wichtig ist, ist bloß dieses: daß klar wird, daß das, was uns bei den vorigen einzelnen herausgegriffenen psychologischen Beispielen wichtig war, sich prinzipiell zunächst ebenso zeigt im Biologischen, im Organischen, ja im Anorganischen, und daß es von hier aus gesehen als eine Ausflucht erscheint, das Problem damit zu lösen, daß man sagt: Ja, das ist etwas spezifisch Psychologisches - eine Ausflucht sofern man meint, das Problem durch Gebietstrennung erledigen zu können.
Es mag sein, daß die Ganzgesetzlichkeiten, die im Psychischen sind - sicher ist das in mancher Hinsicht der Fall - in vieler Weise verschieden sein werden von denen, die z. B. gerade ein elektrisches Feld etwa hat. Das hat mit der Grundfrage aber nichts zu tun. Die Grundfrage, von der wir ganz simpel und ganz klar, ganz streng immer handeln wollen, ist diese: Bestimmt sich ein Teil sinnvoll von innen, von seinem Ganzen, von der Struktur des Ganzen her oder geschieht mechanisch, stückhaft, zufällig, blind, das, was im ganzen geschieht auf Grund der summierten Geschehnisse im einzelnen Stück? Das geschieht in der Physik oft, in erster Linie dann, wenn ich mehrere Maschinen aneinander koppele, das heißt, wenn ich menschlich gemachte Physik treibe. Hier ist ein Punkt, wo die Gestalttheorie am wenigsten leicht verstanden wird und zwar deshalb, weil eine große Anzahl im Laufe der Jahrhunderte aufgesummte Vorurteile über die Natur vorhanden sind: die Natur muß etwas sein, was blindgesetzlich ist, wo das, was im Ganzen geschieht, sieh rein summativ zusammen setze. Die Physik hat ja Mühe genug gehabt, die Teleologie aus sich herauszubringen - Teleologie ist freilich und wahrhaftig nicht die Lösung der Sache. Wir sind heute genötigt, auf ganz anderem Wege zu dem zu kommen, was man früher mit der hier brutal äußerlichen These der Zweckmäßigkeit teleologisch zu lösen versuchte.
Einen Schritt weiter. Wie steht es mit der Frage des Verhaltens zwischen Leib und Seele? Wie steht es mit meiner Kenntnis von der Psyche eines anderen Menschen? Nun, wir haben althergebrachte dogmatische Thesen, die uns allen ins Blut gesetzt sind. Psychisches und Physisches sind was total Heterogenes; zwischen Psychischem und Physischem ist toto genere Heterogenität, das sind zwei Gebiete, die Gottseidank völlig geschieden sind. Wahrhaftig, wir haben eine Menge von metaphysischen Schlußfolgerungen daraus, um die Seele recht schön erscheinen zu lassen, und die Natur recht schlecht. Und: Wenn ich das Psychische von einem Menschen spüre, wenn ich weiß, fühle, was in ihm vor sich geht, dann kann ich das also bloß auf Grund eines Analogieschlusses, der sehr kurz, aber im Prinzip streng, die Grundlage hat: ein bestimmtes Psychisches ist gekoppelt, sinnlos gekoppelt mit einem bestimmten Physischen. Ich sehe dieses Physische und schließe auf das heterogen andere Psychische. Also etwa in dem Schema: Ich sehe, daß ein Mensch ein schwarzes Ding an der Wand umdreht und schließe: er will Licht haben. Solche Zusammenhänge mag es geben. [Ob sie typisch so entstehen, wie man das meint, nämlich in reiner Stückkoppelung von Heterogenem, mag hier dahingestellt sein.] Es gibt nun eine ganze Reihe von Wissenschaftlern - es ist auf diesem Gebiet genau wie auf den anderen -, die von ihrem Gefühl auf das stärkste bedrängt werden durch diese Zweisetzung, die wieder zu den seltsamsten Thesen greifen, um sich davon zu retten. Es ist ja auch für den natürlichen Menschen eine horrende Zumutung, wenn er sieht, daß ein anderer Mensch erschrickt, Furcht hat, zornig ist, daß man ihm einreden könnte: ja, du siehst bestimmte physische Sachen, die haben nichts in ihrem Inneren zu tun mit dem Psychischen, sie sind bloß äußerlich gekoppelt mit dem, was psychisch in ihnen vorgeht; du hast oft gesehen, daß dies und dies gekoppelt war... Man hat versucht, in der verschiedensten Weise des Problemes Herr zu werden. Man spricht von Intuition, man sagt, es ist nicht anders möglich, ich sehe doch die Angst des anderen. Es ist nicht wahr, daß ich bloß diesen körperlichen Vorgang sehe, mit dem das andere nur sinnlos gekoppelt ist. Das Schöne in dieser These von der Intuition liegt darin, daß man positiv irgendwie doch spürt, es muß ganz anders liegen. Aber der Name Intuition kann zunächst nichts darstellen als bloß Benennung dessen, was man begreifen will. Ganz ähnlich ist es mit der These, daß man sagt: Ja, neben dem körperlichen Sehen gibt es ein psychisches, geistiges Sehen. Genau so unbegreiflich, wie es ist, sagt man, daß bei 700mm rot gesehen wird, genau so unbegreiflich ist es, daß ich die Angst eines Menschen sehe, aber - ich sehe sie mit meinem geistigen Auge. Das sind Thesen, die so wissenschaftlich nichts vorwärts bringen; bei der Wissenschaft kommt es immer auf das fruchtbare Eindringen an, nicht auf das Katalogisieren und Systematisieren von Dingen.
Wie mag es nun wirklich liegen? Sieht man näher zu, so liegt noch ein drittes Vorurteil dabei. Es heißt: das, was psychologisch ist, das, was vor sich geht, wenn der Mensch Angst hat, ist ein psychisch bewußtes Phänomen. Wie ?!? Denken Sie, Sie sehen, ein Mensch verhält sich gütig zum anderen oder dieser Mensch verhält sich fromm in seinem Leben. Meint da irgend jemand ernstlich, dieser habe das betreffende - etwa - süßliche Gefühl in sich? Kein Mensch meint das, sondern das Charakteristische seines Habitus, seines geistigen Verhaltens, was mit Bewußtsein noch sehr wenig zu tun hat -. Es ist eines der bequemsten Aushilfsmittel in der Philosophie gewesen, Geist einfach mit Bewußtsein zu koppeln. Hier ein kleiner Ausblick. Man spricht vom Idealismus im Gegensatz vom Materialismus und meint damit Idealismus Schönes und mit Materialismus, wenn man näher zusieht, Trübes, Dürres, Trockenes, Häßliches. Meint man da wirklich Bewußthaftes im Gegensatz zum Beispiel zum friedlich sprossenden Baum? Wenn man sich einmal recht überlegt, was an dem materialistischen, mechanischen einem zuwider ist, und was an dem idealistischen groß, hängt denn das an den Materialeigenschaften der Stücke, die da verbunden sind? Grob gesagt: es gibt psychologische Theorien und recht viele psychologische Lehrbücher sogar, die, trotzdem sie dauernd nur von Bewußtseinselementen sprechen, materialistischer, dürrer, sinnloser, geistloser sind als ein lebendiger Baum, der vom Bewußtsein auch vielleicht nichts in sich hat. Nicht darauf kann es ankommen, woraus materialiter die Stückchen des Geschehens bestehen, sondern auf den Sinn des Ganzen, die Art des Ganzen muß es ankommen.
Geht man von da aus in die konkreten Probleme, von denen ich spreche, dann stellt sich sehr rasch heraus, daß es sehr vieles von körperlichen Vorgängen gibt, wo nur wir Europäer in unserer Spätkultur überhaupt auf die Idee gekommen sind, das Geistige und Physische so zu trennen. Denken Sie, ein Mensch tanzt. Im Tanzen liege Anmut, Freude. Wie steht es damit? Ist da wirklich auf der einen Seite eine Summe physikalischer Muskel- und Gliederbewegungen, auf der anderen Seite psychisch Bewußtes? Nein. Damit wäre aber das Problem noch nicht gelöst, sondern hier beginnt die Aufgabe. Es ist meines Erachtens geglückt, hier einen fruchtbaren Ansatz zu finden. Es stellt sich nämlich heraus, daß es viele solche Vorgänge gibt, bei denen, wenn man nur von dem materialen Charakter der einzelnen Stückchen absieht, gestaltlich Identisches vorliegt. Wenn ein Mensch zaghaft, ängstlich oder energisch, munter oder traurig ist, läßt sich streng nachweisen, daß - man konnte auch solche Experimente machen - der Charakter des physikalischen Geschehens im Verlaufe, auch im Physikalischen streng faßbar, mit dem des inneren Geschehens, der Art des Verlaufes im Psychischen, gestaltident oder gestaltverwandt ist.
Auch das konnte ich hier bloß andeuten. Ich wollte gerade dies Problem auch nur erwähnen, um beispielsweise darauf hinzuweisen, wie solche Problemstellung auch mit prägnanten philosophischen Fragen zusammenhängt. Ich will das aber noch verstärken. Wie steht es mit der Erkenntnistheorie, wie steht es mit der Logik? Es ist durch Jahrhunderte die Erkenntnistheorie gebannt gewesen in das dogmatische Vorurteil, daß im Grunde die Welt aus Summen-Stückchen, aus Bündeln besteht, wie etwa bei David Hume, wie auch z. B. bei Kant, wo doch das Dogma mitspielt von der sinnlosen Summe, obzwar bei Kant sich manches findet, was mit unserem Problem sehr positiv zusammenhängt. Und wie steht es mit der Logik ? Was lernen wir in der Logik, was gibt uns die traditionelle Logik? Begriffe, die, wenn man sie streng ansieht, Merkmal-Summen sind, Klassen, die, wenn man sie streng ansieht, auf alles was wirklich geleistet ist in der traditionellen Logik, sich darstellen lassen als Säcke, die jene umfassen, Syllogismen, die aus beliebig zusammengewürfelten zwei Sätzen entstehen, wenn sie nur die Eigenschaft haben, daß usw.
Wenn man sich recht überlegt, was im lebendigen Denken ein Begriff ist, was das wirkliche Kapieren eines Schlusses ist, wenn man sich überlegt, was das Entscheidende bei einem mathematischen Beweisgang ist, bei dem sachlichen Ineinanderhängen, dann sieht man, daß mit den Kategorien der traditionellen Logik hier nichts gemacht ist. Wie ernst ich Sie aber bitten möchte, das Problem anzusehen, möchte ich dadurch charakterisieren: damit ist gar nichts getan, wenn man das einmal fühlt - damit ist vielleicht menschlich etliches getan und künstlerisch vielleicht auch, aber für die Wissenschaft beginnt erst die Aufgabe, wenn man sieht, daß das, was wir in der traditionellen Logik haben, im Prinzip stückhaft ist. Da beginnt erst die Aufgabe und diese Aufgabe gehört wahrhaftig zu den schwierigen; es ist die schöne Aufgabe: wie denn überhaupt eine Logik prinzipiell möglich ist, die nicht stückhaft fundiert ist. Alles was an irgend dahingehenden Versuchen bis vor kurzem vorlag, läßt sich an Strenge mit dem, was die traditionelle Logik in ihrer Art geleistet hat, nicht vergleichen. Als extremes Beispiel will ich noch auf etwas hinweisen. Wir haben in einer ganzen Reihe von Wissenschaften jetzt die Entwicklung, daß alles in der glänzenden Vervollkommnung stückhafter Methodik kulminierte, daß Schwierigkeiten auftauchen, daß man sie durch Daransetzen von Andersartigem scheinbar erledigt meint. Denken Sie an die wunderschönen Aufstiege, die sich ergeben haben in der mathematischen Axiomatik, etwa in Hilberts Arbeiten. Denken Sie, was es für die Wissenschaft bedeutet, zu so prinzipiellen Ansätzen in der Klärung zu kommen, und überlegen Sie, daß, was Hilbert tut, sich von der einen Seite charakterisiert als stärkste Kondensierung stückhaften Ansatzes. Spräche man mit Hilbert darüber und sagte: Ja, dann könnte man doch die sinnlosesten Axiome in Summe nebeneinandersetzen, dann sagt er wohl: Davor bewahrt mich mein mathematisches Gefühl ... Genau so, wie auf anderen Problemgebieten tritt auf, ist aufgetreten, bei diesem Problemgebiet der Axiomatik in der Mathematik die Frage: Muß denn alles Mathematische stückhaft fundiert werden und wie müßte ein mathematisches System aussehen, nicht stückhaft fundiert? Wir haben mehrere Ansätze dahin, die doch irgend schon in diese Richtung gehen, die das Beste gewollt haben, fast immer aber rasch in das Stückhafte zurückgefallen sind. Das ist ein Schicksal, das vielen passiert, denn die Dressur auf das stückhafte Denken ist extrem stark. Wie streng das gemeint ist, mag dadurch illustriert sein, daß auch hier wieder das Problem damit noch nicht im innersten gelöst ist, daß man erkennt und etwa scharf und streng nachweist, daß die bekannten Ansätze in der mathematischen Axiomatik stückhaft sind, daß sich aber auch gewisse Momente darin finden, die schon auf das andere hinweisen und ändern wollen, sondern daß das Problem erst dann einigermaßen wissenschaftlich angepackt ist, wenn ein Ansatz da ist zu positiven Leistungen. Wie ein solcher Ansatz aussehen mag, das erscheint manchen Mathematikern vorläufig noch als ungeheures Problem, aber als Problem, das vielleicht gelöst werden muß, wenn man zum Beispiel den modernen Problemen der Quantentheorie nahekommen will.
Das war der Versuch eines Überblicks an irgend herausgegriffenen Problemgebieten. Ich weiß nicht, ob er das irgend geleistet hat, was ich wollte. Vielleicht ist es gut, wenn ich am Schlusse noch eine prinzipielle und ein wenig zusammenfassende Sache sage. Ich betrachte die Sachlage mengentheoretisch und sage: Wie muß eine Welt aussehen, wo es keine Wissenschaft, kein Begreifen, kein Hineindringen, kein Tieferdringen, kein Erfassen der inneren Zusammenhänge geben kann? Die Antwort ist sehr einfach. Wenn ich eine Mannigfaltigkeit habe von lauter disparaten Stücken. Wie ist zweitens eine Welt beschaffen, wie müßte eine Mannigfaltigkeit gedacht werden, damit man Wissenschaft im Sinne der stückhaften Wissenschaft treiben kann? Nun, auch dies läßt sich sehr einfach charakterisieren. Ich brauche nichts als gewisse durchgehend wiederholte Koppelungen sinnloser Art, stückhafter Art, dann habe ich alles an Voraussetzungen, was ich zum Betriebe der traditionellen Logik, der stückhaften Mathematik und Wissenschaft überhaupt brauche. Es gibt eine dritte Art von Mengen, die mengentheoretisch freilich noch sehr wenig untersucht sind, jene Mengen nämlich, wo sich eine Mannigfaltigkeit nicht aufbaut aus aneinandergesetzten Stücken, sondern wo das, was an einem Ort dieser seiner Menge drin ist, sich von Ganzgesetzen seiner Menge bestimmt. Im Bild:
In welcher Lage sind wir denn? Wir sehen von der Welt jeder einen Ausschnitt. Dieser Ausschnitt ist an sich wahrhaftig klein. Denken Sie, es wäre so: die Welt bestünde aus einem großen Plateau, auf diesem Plateau säßen Musiker und jeder musizierte. Ich gehe herum und höre und sehe. Nun, da gibt es Möglichkeiten verschiedener Art, prinzipiell. Es könnte erstens so sein, daß die Welt eine sinnlose Mannigfaltigkeit wäre. Jeder tut irgend etwas, jeder für sich. Was im Zusammenhang geschieht, ist, wenn ich etwa hören kann, was zehn zusammen tun, wenn ich ahnen könnte, was alle zusammen tun, Zufallseffekt von dem, was eben jeder einzelne tut - extrem stückhafte Theorie - Ansatz der kinetischen Gastheorie -. Eine zweite, Möglichkeit: sooft einer c spielt, spielt ein anderer soundsoviel Zeitsekunden nachher f, ich setze irgendeine blindgesetzliche stückhafte Koppelung zwischen dem, was die einzelnen machen und auch dann geschieht im Ganzen Sinnloses. Das ist die Art, wie die meisten Leute sich die Physik denken. Die wirkliche Arbeit in der Physik, recht besehen, zeigt die Welt anders. Die dritte Art, das wäre etwa z. B. eine Beethovensche Symphonie, und wir hätten die Möglichkeit, an einem Teil des Ganzen zu erfassen, irgend etwas zu ahnen von dem Strukturprinzip dieses Ganzen, wobei dann die Grundgesetze nicht irgendwelche Stück-Gesetze sind, sondern Charaktereigenschaften dessen, was geschieht. Damit will ich hier schließen.
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2 Vgl. Wolfgang Köhler: Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Erlangen 1920. - Gestaltprobleme und Anfänge einer Gestalttheorie (Übersichtsreferat). Im Jahresbericht über die gesamte Physiologie, 1922, S. 512ff. Berlin, Julius Springer, 1924. -> zurück zum Text