Druckfassung eines Vortrags auf der "11. wissenschaftlichen Arbeitstagung der Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen (GTA)" an der Universität Graz vom 11. - 14. März 1999. Erschienen in Gestalt Theory 21, No. 2, 1999, 78-99.
Web-Publishing erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors
"Was für ein Mensch war Wolfgang METZGER?" ist die Kernfrage, die anläßlich seines 100. Geburtstags am 22. Juli 1999 gestellt wird. Ohne Scheu vor "(gestalttheoretischen) Psychologisierungen" belegt der Verfasser nicht nur, daß die "Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen (GTA)" dem Wirken ihres Mitbegründers und ersten Ehren-vor-sitzenden ihre Existenz verdankt, sondern auch, daß Wolfgang METZGER seinen wissenschaftlichen Auffassungen, die er als Schüler der Gestalttheoretiker und -psychologen Max WERTHEIMER, Wolfgang KÖHLER und Kurt LEWIN gewonnen hatte, auch nach deren Auswanderung in die USA als im Nazi-Deutschland zurückgebliebener Assistent WERTHEIMERs uneingeschränkt treu geblieben ist.
"What kind of person was Wolfgang METZGER?" is the central question asked on the occasion of his hundredth birthday on July 22th 1999. Without the least fear of "(Gestalt theoretical) psychologizing" the author does not only substantiate that the "Society for Gestalt Theory and its Applications (GTA)" would not exist without the working of its co-founder and first honorary president, but also that Wolfgang METZGER had remained unreservedly true to his scientific convictions which he had won as a student of the Gestalt theorists and Gestalt psychologists Max WERTHEIMER, Wolfgang KÖHLER, and Kurt LEWIN, when after their emigration to the USA he - then assistant of WERTHEIMER - was left behind in Nazi-Germany.
Gestatten Sie mir zu Beginn "schlechten Stil". Nein, ich meine nicht "schlechtes Deutsch" (obwohl auch das vorkommen kann); ich meine "schlechten Stil" im Sinne von: "Der Esel kommt immer zuerst."
Es gibt eine Gemeinsamkeit zwischen Wolfgang METZGER und mir: Ich hatte 1965 in Marburg mit dem Studium der Psychologie und der Germanistik begonnen und wechselte, abgestoßen vom Stellenwert der Statistik und der Beschäftigung mit "Ratten im Labyrinth" am Psychologischen Institut, nach zwei Semestern an die Universität Frankfurt. Dort leitete der von METZGER einmal, sehr liebevoll gemeint, als "wichtigste Hinterlassenschaft" Max WERTHEIMERs bezeichnete Edwin RAUSCH das Psychologische Institut I.1
Und hier fühlte ich mich nicht nur als Psychologiestudent "zu Hause angekommen". Auch wenn mit dieser Qualität meiner Begegnung mit Gestalttheoretikern das, was ich mit METZGER gemeinsam habe, schon fast an seine Grenze gekommen sein mag - es möge vor allem niemand auf die Idee kommen, ich hielte für möglich, METZGER als psychologischem Forscher "das Wasser reichen" zu können -, in diesem Punkt jedenfalls, glaube ich, mein eigenes Verhältnis zur Gestalttheorie für das Verständnis von METZGERs Lebensweg nutzen zu können.
Wolfgang METZGER gab 1924 sein Germanistik-Studium, kurz bevor er es erfolgreich hätte abschließen können, auf, nachdem er in Berlin in eine Übung von KÖHLER und WERTHEIMER geraten war. Er berichtet (in PONGRATZ u. a., 195):
"Ich wußte nicht, wer Köhler war, und wußte auch nicht, wer Wertheimer war. Ich ging da hinein, es wurden einfache Probleme der optischen, der Gesichtswahrnehmung durchdiskutiert, und ich merkte sofort, daß ich jetzt erst zu Hause angekommen war, sozusagen."
Er war nicht nur "sozusagen", er war wirklich zu Hause angekommen. Er arbeitete von da an unentwegt für die Verwirklichung und Weiterentwicklung des von diesen beiden in Verbindung mit Kurt LEWIN, dem dritten ihn in seiner Berliner Zeit unmittelbar beeinflussenden Lehrers, entworfenen psychologischen Wissenschafts- und Forschungsprogramms. 1926 promovierte er, 1927 wurde er Assistent am Berliner Psychologischen Institut.2
METZGER hatte sich während seiner Studienjahre umgehört; er hatte von Anfang an nicht nur Germanistik studiert; er hatte sich mit vielerlei Denkansätzen berühmter Wissenschaftler auseinandergesetzt und "viele Haare in der Suppe" gefunden. Er war alles andere als ein wissenschaftliches "Greenhorn", als er in die Übung der ihm bis dahin unbekannten Psychologen Max WERTHEIMER und Wolfgang KÖHLER geriet. Ihm begegneten mit ihnen noch keine Berühmtheiten; ihm begegneten vorbehaltloses Interesse an menschlichen Phänomenen, bedingungsloses Fragen nach den Zusammenhängen menschlicher Existenz und - darauf gründend - überzeugende Gedankengänge statt Ideologie. Dafür entschied er sich, so klar auch später wurde, daß dies zugleich eine Entscheidung für Max WERTHEIMER als menschliches Vorbild war.
Was politisch kam, wissen wir. Daß METZGER im Nazi-Deutschland blieb, daß er Anpassungsleistungen in Form von SA-Mitgliedschaft (1933) und schließlich auch NSDAP-Mitgliedschaft (1937) erbrachte, wissen wir. METZGER bediente sich z. B. auch, offenbar um für die Berufung zum Professor nach Münster (1942) als politisch zuverlässig eingestuft zu werden, des Wohlwollens eines Kollegen, den, wie METZGERs Brief vom 26. 6. 1933 an WERTHEIMER andeutet (vgl. WALTER, Hg., 1998, 19), auch dieser in der Zeit vor HITLERs Wahlsieg eher positiv eingeschätzt haben dürfte, der danach jedoch dem Regime öffentlich diente; es handelt sich um den von Mitchell ASH (1995, 350) als "Nazi-Pädagoge" bezeichneten Ernst KRIECK, der die Zeitschrift "Volk im Werden" herausgab. In dieser Zeitschrift veröffentlichte METZGER zwei Beiträge, die vordergründig - ich meine: sehr vordergründig, praktisch nur für besonders Einfältige - Sympathie für im Nazi-Staat gepflegte Vorstellungen zu signalisieren vermochten. Ebenso bewerte ich zwei kleine Beiträge, die zuvor 1938 in einem "gleichgeschalteten" regionalen Lehrerblatt für die Umgebung von Halle erschienen waren, als METZGER sich Hoffnungen auf eine Berufung dorthin machte. Damit befinde ich mich weitgehend in Übereinstimmung mit der Beurteilung STADLERs (1985). Die strenger angelegte Analyse Mitchell ASHs (1995, 342-354) läuft darauf hinaus, daß METZGERs "Reaktion auf das akademische Leben unter der Nazi-Herrschaft nur eines von vielen Beispielen für ängstliche Anpassung unter unsicheren Bedingungen" gewesen sei (ASH, 354), daß er der Gestalttheorie seiner Lehrer aber treu geblieben sei (404).
Ich sah, als ich vor gut einem Jahrzehnt von den erwähnten Sachverhalten erfuhr, keinen Anlaß, Abstriche von meiner Wertschätzung für METZGER zu machen. Es blieb jedoch eine Beunruhigung, eine Unzufriedenheit zumindest mit dem, was in diesem Zusammenhang über METZGER geschrieben und gesagt wurde, und zwar gleichermaßen bei den eindeutig wohlwollend-verständnisvollen Äußerungen wie bei denen, wo sich, wenn auch sanft, noch der moralische Zeigefinger reckte. Im einen wie im anderen Fall schien es sich mir eher um eine Darstellung summativer Art zu handeln. Diese Beunruhigung veranlaßt mich, heute, in meiner Laudatio, die Frage in den Mittelpunkt zu stellen: Was für ein Mensch war Wolfgang METZGER?
Die Grundlagen dafür, diese Frage hinreichend zu beantworten, mögen immer noch unzureichend sein. Der Briefwechsel METZGER-WERTHEIMER aus den Jahren 1929-1937, kürzlich in der "Gestalt Theory" veröffentlicht (WALTER, Hg., 1998) scheint mir jedoch eine gute Hilfe zu sein; außerdem waren die (getrennten) Gespräche aufschlußreich, die ich im August 1998, zusammen mit Marianne SOFF, mit den beiden ältesten Kindern METZGERS, Tilman (geb. 1931) und Ute (geb. 1934) in Münster führte, um, nicht zuletzt, mehr über den Familienvater METZGER zu erfahren. Dabei erhielt ich neben zahlreichen Photos (eine Auswahl davon findet der Leser auf den Seiten 92-99 dieses Heftes) auch 18 Predigten METZGERs, die er vom 5. Mai bis zum 26. Dez. 1946 als informeller evangelischer Hilfspfarrer in der Zeit der Evakuierung seiner Familie nach Freckenhorst bei Münster gehalten hat.
Blieb METZGER seiner Frau und seiner Kinder wegen in Deutschland, wie er selbst gesagt haben soll (STADLER, 1985, 142; STADLER und CRABUS, 1986, 14)? Wenn das die ganze Wahrheit oder im Sinne WERTHEIMERs die "Wahrheit im Ganzen" wäre, wie müßte man dann die Feststellung von STADLER und CRABUS (1986, 16) in diesem Ganzen einordnen:
"Ohne Zweifel war es METZGER gelungen, die Forschungstradition der Gestaltpsychologie durch die Zeit des Nationalsozialismus hindurch zu bewahren und unmittelbar nach dem Kriege ... im nahtlosen Anschluß an die Vorkriegstradition weiterzuentwickeln."
Ich stimme letzterem ja zu. Aber kann man dies nun, muß man es gar als Folge, als logische Konsequenz der Entscheidung wegen Frau und Familie nachordnen?
In verschärfter Weise tut sich das Problem des logischen Zueinanders bei den beiden oben zitierten Feststellungen ASHs auf: Wie konnte Metzgers Verhalten im "Dritten Reich" ein Beispiel "für ängstliche Anpassung unter unsicheren Bedingungen" liefern und er zugleich den Leitlinien der Begründer der Gestalttheorie "treu bleiben", die dieses Reich nicht nur ablehnten, weil sie darin umgebracht worden wären, sondern auch, weil es Auffassungen verkörperte, die ihren Leitlinien vollkommen entgegengesetzt waren, wie übrigens METZGER selber ausdrücklich feststellt (z. B. 1976, 659).
Um hier Klarheit zu schaffen, soll weiter die Unterscheidung WERTHEIMERs zwischen "Wahrheit im Ganzen" und "stückhafter Wahrheit" bzw. "Wahrheit im Detail" herangezogen werden (vgl. 1991, 13-33).
Wäre es die "Wahrheit im Ganzen", er sei seiner Frau und seiner Kinder wegen in Deutschland geblieben, so könnte dazu als "Wahrheit im Detail" unter bestimmten Bedingungen "ängstliche Anpassung" gut passen. In mitleiderregender Weise könnte jemand erläutern, er habe seine Frau, die gerne 12 Kinder gehabt hätte (es wurden sechs), sehr geliebt, wie seine Tochter Ute berichtet; und sogar die Virtualität bedeutenden Mutes mit dem Hinweis unterstellen, die Abhängigkeit von einer Frau habe schon manchen "starken Mann" korrumpiert.
Tatsächlich war METZGER im Umgang mit seiner Frau kein "starker Mann", wie die Berichte der beiden ältesten Kinder belegen. Die Tochter Ute sagt, er habe zu Hause "unter dem Pantoffel" gestanden, und etwas zurückhaltender der ältere Bruder Tilman, dessen Beziehung zur Mutter sich vergleichsweise spannungslos gestaltete, zu Hause habe die Mutter den Ton angegeben.
Doch das verliert wieder seine Schlüssigkeit, denn es stellt sich heraus, daß Wolfgang METZGER im mitmenschlichen Kontakt überhaupt kein "starker Mann" war. Das war er auch nicht im Umgang mit seinen zahlreichen Schülern (vgl. WALTER, 1998, 6/7). Ein "starker Mann" aber wird, jedenfalls volkstümlicher Überzeugung folgend, nur bei einer oder für eine Frau schwach.
Daß er generell einen schwachen Eindruck hinterließ, wenn es um die Durchsetzung seiner Bedürfnisse gegenüber anderen ging, bestätigt Ute, die berichtet, er habe grundsätzlich schlecht "Nein" sagen, habe nicht verhandeln können, und sich allenfalls mit "freundlich-ironischen Bemerkungen" gegen Ansprüche zur Wehr gesetzt. Die Abhängigkeit von seiner Frau und der mit ihr zusammen begründeten Familie als "Wahrheit im Ganzen" aufzufassen, wäre, so scheint es demnach, zu kurz gegriffen.
Hat vielleicht ASH den richtigen Riecher gehabt und mit "ängstlicher Anpassung" die "Wahrheit im Ganzen" getroffen? Die Wahl einer dominanten Lebenspartnerin paßt als Detailwahrheit bestens zu einem im Ganzen ängstlichen, sich nach Anlehnung sehnenden Menschen. Ja, auch die Entscheidung für eine "starke" Theorie paßt zu einem solchen Menschen.
Ute berichtet, vom Vater habe es, auch wenn er im Hause war, immer nur geheißen: Er arbeitet. Der Vater habe jedoch keinen Zeitaufwand gescheut, um der autoritären Mutter als Schlichter für ihre häufigen Streitigkeiten mit den Kindern zu Hilfe zu kommen. Leider sei, was auch Tilman bestätigt, der Ausgang immer so gewesen, daß er die Kinder dazu angehalten habe, die kränkelnde Mutter zu verstehen und ihr zu gehorchen. Aber wenn man ihn in Ruhe gelassen hätte, sagt Ute, hätte er Tag und Nacht gearbeitet - sie meint damit: an seinem Schreibtisch, an seinen Manuskripten.
Auch das könnte noch passen, auch wenn in Utes Schilderung eine "partielle Stärke" zum Vorschein kommt: METZGERs Fleiß ist unbestritten (vgl. WITTE, 1980). Seine Arbeit, die Arbeit an der Ausformulierung und der experimentellen Überprüfung gestalttheoretischer Auffassungen und daraus abgeleiteter Hypothesen, das war offensichtlich der für seine "Stärke" reservierte Bereich; er war offenbar beispielhaft stark in der Durchsetzung des als richtig und notwendig Erkannten gegenüber sich selbst - wenn man ihn in Ruhe ließ.
Aber könnte diese vielleicht zu einem im Ganzen "schwachen" Menschen passende "partielle Stärke" ausreichen, um die anderen Feststellungen von STADLER und CRABUS einerseits und ASH andererseits plausibel zu machen? Reichte der Fleiß am Schreibtisch aus, um "die Forschungstradition der Gestaltpsychologie durch die Zeit des Nationalsozialismus hindurch zu bewahren" (die einen) und den Leitlinien der Gestalttheorie WERTHEIMERs und der anderen Begründer "treu" zu bleiben (der andere)? Vermag "ängstliche Anpassung", verstanden als "Wahrheit im Ganzen", noch halbwegs glaubwürdig die Aussagen über seine Verdienste als Gestalttheoretiker zu repräsentieren? Wohl kaum!
Also setze ich probeweise einmal als "Wahrheit im Ganzen" ein: Er ist der Gestalttheorie und -psychologie "treu geblieben" und hat sie "durch die Zeit des Nationalsozialismus hindurch" bewahrt. Dazu paßt wahrhaftig bestens, daß er auch seine Frau und seine Kinder durch die Zeit des Nationalsozialismus hindurch bewahrt. 3 Aber paßt es noch zu einem Menschen, der es einer dominanten Frau recht zu machen versucht? Paßt es - um das nicht zu vergessen - zu einem, der einen sicheren Studienabschluß mit der Aussicht, bald ein gutes Gehalt zu beziehen, "Knall auf Fall" sausen läßt, weil ihn zwei Psychologen beeindrucken?
Das paßt alles so gut, daß es mir schon wehtut: zu einem Menschen mit großer Sehnsucht nach Anlehnung, nach Abhängigkeit, der in diesem Sinne schwach ist und es vielleicht sein Lebtag bleibt, der aber leidenschaftlich zu dem steht, was er als seine "Sache" gewählt hat; der sich nach dem richtigen Stärkeren sehnt, weil er sich nicht als stark genug wahrnimmt, um selber die Führung zu übernehmen. Vielleicht ist Bescheidenheit, ja ist Demut ein Begriff im Konnotationsfeld dieser Möglichkeit. Könnte METZGER, trotz offenkundiger menschlicher Schwächen, am Ende ein sehr starker Mensch darin gewesen sein, hartnäckig nach dem zu suchen, was ihn überzeugte, und entschieden das als richtig Erkannte zu vertreten?
Da stört nun aber sehr das Urteil, sein "Verhalten gegenüber dem akademischen Leben unter der Herrschaft des Nazismus" sei "nur eines von vielen Beispielen ängstlicher Anpassung unter unsicheren Bedingungen" gewesen (ASH, 354).
Ängstlich war METZGER offenbar bei seinem Einsatz für den häuslichen Frieden. Doch es ist eine Binsenweisheit: Wer Angst und Furcht nicht kennt, der kennt auch keinen Mut! Es ist noch zu klären, ob es auch wirklich "ängstliche Anpassung" war, was ASH als solche bezeichnet. Gibt es nicht auch "mutige Anpassung"? Zur Beantwortung dieser Frage hole ich noch einmal aus:
METZGERs Bericht zufolge (PONGRATZ, 200) drängte WERTHEIMER ihn schon im Herbst 1931, als er sich bei diesem als neuer Assistent in Frankfurt vorstellte, rasch zu habilitieren, weil fraglich sei, ob er als Jude METZGER nach den nächsten preußischen Landtagswahlen im März noch habilitieren könne. WERTHEIMER schien also schon zu dieser Zeit keinen Zweifel daran zu haben, wie es in Deutschland politisch weitergehen würde. Michael WERTHEIMER berichtet, daß sein Vater "in der Voraussicht dessen, was folgte", "seine Familie nach Marienbad in der Tschechoslowakei" übersiedelte, "um die Bedrohung durch die Nazis zu überstehen".
Das war schon Anfang 1933. Und WERTHEIMER kehrte nicht mehr nach Frankfurt zurück, sondern emigrierte mit Frau und Kindern von dort in die USA. METZGER fungierte dabei von Anfang an als Statthalter und sandte seinem Lehrer Bücher und andere Arbeitsmaterialien nach. Er hielt die Stellung und erfüllte damit die Erwartungen, die WERTHEIMER in ihn setzte.
Ich gewann bei der Beschäftigung mit METZGERs Briefen an seinen Lehrer den Eindruck, daß er sich schon sehr früh als dessen Statthalter zu verstehen begann. Nicht erst die Briefe, die er ab 1933 an ihn schrieb, sondern schon die Briefe, die er nach WERTHEIMERs Weggang von Berlin nach Frankfurt als Zurückgebliebener verfaßte, der noch nicht wissen konnte, ob er jemals WERTHEIMERs Assistent in Frankfurt würde, belegen dies nach meinem Eindruck. Dazu passen die ungewöhnlich leidenschaftlichen Äußerungen (PONGRATZ, 196/7) des gut 70-jährigen METZGER über WERTHEIMER, in denen von diesem als dem "eigentliche(n) Anreger der ganzen Geschichte" (gemeint ist die Gestalttheorie), von seiner menschlichen Faszination, von "einer unglaublichen Schlichtheit" und vom gerade davon ausgehenden Prophetischen die Rede ist, das er für ihn als jungen Studenten an sich gehabt und auch jetzt noch habe.
Da wird noch beim über 70-jährigen METZGER die schwache Seite des jungen Studenten, die Sehnsucht nach einer überzeugenden Vaterfigur, die Unterordnung rechtfertigt, erkennbar, obwohl er als Wissenschaftler und Hochschullehrer weit über die ursprüngliche Sehnsucht nach Abhängigkeit und Geborgenheit hinausgewachsen war; 1933 mußte er, der das zuvor sicherlich niemals in Erwägung gezogen hatte, nach dem Verlust seines Mentors politisches Kalkül einsetzen, um seiner Entscheidung, die Stellung zu halten, Genüge zu tun.
Ich kenne jedoch keine einzige Äußerung METZGERS, mit der er sich über sein Schicksal beklagt. Man muß schon zwischen den Zeilen lesen, z. B. in der Befragung durch PONGRATZ u. a. (1972), wenn man liest:
"WERTHEIMER war ja noch ein Jahr da, 1932 bis 1933, das war noch ein schönes und höchst bemerkenswertes Jahr mit vielen schönen Gesprächen, aber es war halt kurz."
Wenn man ihn gelassen hätte, so sagt Ute, hätte er Tag und Nacht gearbeitet. Das hat er in Frankfurt, nachdem WERTHEIMER verschwunden war, zweifellos getan, und nicht nur am Schreibtisch, an dem neben manchem anderen bis 1936 die erste Auflage seiner weltberühmten "Gesetze des Sehens" entstand. Er hielt, zunächst als habilitierter Assistent und erst ab 1935 zugleich als "stellvertretender Leiter" des Psychologischen Instituts, den Lehrbetrieb aufrecht, sorgte für notwendige Renovierungen von Institutsräumen, experimentierte, betreute die ihm von WERTHEIMER hinterlassenen Doktoranden so sorgfältig, daß er seinem Lehrer über jedes Detail von deren experimentellen Anordnungen und Ergebnissen und darüber hinaus ihren beruflichen Werdegang und ihr persönliches Ergehen berichten konnte. Es gelang ihm, auch die verbliebenen Doktoranden jüdischer Herkunft, Erika OPPENHEIMER (verh. FROMM) und Erich GOLDMEIER bis zu ihrem erfolgreichen Abschluß (1934 und 1937; vgl. ASH, 1995, 424) zu betreuen (erstere ist emeritierte Professorin für Psychologie an der University of Chicago und fast 89 Jahre alt).
Um das alles leisten zu können, war es für METZGER, so scheint mir u. a. die Art und Weise, wie er WERTHEIMER darüber berichtet (vgl. WALTER, Hg., 1998, 22), zu belegen, z. B. eine der "kleineren Übungen", Ende 1933 der SA beizutreten. Er war ja nicht geblieben, um sich zu verstecken, um zu schweigen, um "innere Emigration" zu praktizieren. Er wollte "die Stellung" halten, und war offensichtlich ohne Zaudern zur dafür ihm erforderlich erscheinenden Mimikry bereit. Es gibt - dafür stehe ich ein - selbst in der akribischen Auflistung von Formulierungen METZGERs, die ASH (346-354) in die Kategorie "Anpassung" einordnet, keine einzige, von der man allen Ernstes behaupten könnte, in ihr drücke sich Sympathie für Auffassungen aus, die jemand bei klarem Verstand im Nazi-Deutschland zur Rechtfertigung von Verbrechen hätte heranziehen können. Und zur Vermeidung denkbarer Mißverständnisse bedarf es jeweils nur der Lektüre weniger vorstehender oder nachfolgender Zeilen.
Tilman, inzwischen evangelischer Pfarrer im Ruhestand 4, erinnert sich an ein Gespräch mit seinem Vater über Vorträge, die dieser nach dem Kriege in der damaligen DDR zu halten beabsichtigte. Sein Vater habe ihm gesagt, er habe bewußt auch linientreue Sätze eingebaut; dies sei nötig, um sagen zu können, was man eigentlich sagen wolle. METZGER bringt da nichts anderes zum Ausdruck als eine nachvollziehbare Folgerung aus dem unbestreitbar richtigen Grundsatz gleichermaßen sozialarbeiterischer wie pädagogischer wie psychotherapeutischer Arbeit: Man muß die Klienten da abholen, wo sie sind. 5 Ohne "mutige Anpassung" wäre es METZGER z. B. nicht möglich gewesen, im organisatorischen Rahmen der "NS-Volkswohlfahrt" in Münster eine Erziehungsberatungsstelle einzurichten, und seinen Studenten dort Praktika und Berufstätigkeit zu ermöglichen (vgl. STADLER/ CRABUS, 1986, 16).
Was ist die "Wahrheit im Ganzen" Wolfgang METZGERs? Dem als richtig Erkannten "treu bleiben und es bewahren" - paßt das zu jemandem, der an das Wohl seiner Frau und seiner Kinder denkt? Zweifellos! Paßt es zu jemandem, der in einem Staat, von dem er weiß, daß dieser verheerendes Unheil stiftet, ängstlich ist und gelegentlich Anpassung signalisiert? Ja, es paßt, wenn damit kein Verrat an der Sache verbunden ist, um deren Bewahrung es geht, und wenn es in der Überzeugung geschieht, daß es dieser Sache dient. Ich meine: Es würden als Teil-Wahrheiten noch mancherlei persönliche Schwächen zu einem Menschen passen, der im Ganzen treu ist.
Als METZGER in Frankfurt ohne seinen Lehrer auskommen mußte, bestand für ihn kein Zweifel, wo er als Wissenschaftler, als Forscher, als Lehrer, als Psychologe auch ohne Unterstützung "zu Hause" war. Wenn Wünsche nach Anlehnung und Abhängigkeit einmal eine Rolle gespielt hatten und er sie auch noch immer spüren mochte, so dürfte deren Transformation in eine dem Erwachsenen angemessene Form sich längst in der Nähe des ethischen Niveaus befunden haben, das auch sein von STADLER/CRABUS (15) als sein drittes Hauptwerk bezeichnetes Buch "Schöpferische Freiheit" auszeichnet.
Ich glaube, daß darin die "Wahrheit im Ganzen" des Menschen METZGER am ausführlichsten zum Ausdruck kommt. Aber den Kern dieses in seiner endgültigen Fassung erst 1962 erschienenen Buches formuliert METZGER schon in seinem 1941 (als der Krieg Nazi-Deutschlands zum "Weltkrieg" wurde!) erschienenen "theoretischen Hauptwerk" "Psychologie" (227/28). 6
Nachdem METZGER dort (damit WERTHEIMER referierend) die von einer "Unstimmigkeit der Sache selbst" ausgehende Forderung angesprochen hat, die "Sache selbst so zu ändern, ..., daß sie die natürliche Ordnung, zu der sie hindrängt, tatsächlich erreicht", und dann als Beispiele sowohl das Knöpfe auseinander ordnende Kind als auch den Staatsmann angeführt hat, "der die Möglichkeiten ahnt, die in einem ganzen Volke schlummern, und der nicht rastet und ruht, ehe sie Wirklichkeit geworden sind", fährt er fort:
"Wir stoßen hier auf den tiefsten Sinn, den das Wort 'Sachlichkeit' haben kann; und so, nicht im Sinn einer Ablehnung und Verachtung allen Gefühls und aller lebendigen Wärme, ist dieses Wort z. B. in der neueren Seelenheilkunde [KÜNKEL1927 ff.] tatsächlich gemeint. Es bezeichnet das Höchste, was ein Mensch im Leben erreichen kann: seinen Scharfblick, seine Voraussicht, seine Führerbegabung, seinen Mut, seine Tatkraft und seine Macht in den Dienst einer natürlichen Ordnung zu stellen, mit wachen Sinnen zu spüren, was ihr nottut, was sie stört und verzerrt, und wie ihr geholfen werden kann,- und danach zu handeln. Schon der unscheinbarsten und alltäglichsten Verrichtung kommt es in oft ungeahntem Maß zugute, wenn das eben zu Besorgende nicht lediglich als leider unvermeidliches Mittel für ganz andere Zwecke: Lohn, Freizeit, Lob, Ehre, gutes Gewissen ..., gleichgültig, mißmutig oder widerwillig 'erledigt', sondern im Geist des Dienstes und der Fürsorge, mit 'Hingabe' [KLAGES 195010; SUZUKI 1934], d. h. mit Sachlichkeit im eigentlichen Sinn getan wird; und nichts unterscheidet zwei arbeitende Menschen und ihre Leistungen mehr als das Vorhandensein oder Fehlen dieser sachlichen Haltung. Bei dem Bekenntnis, 'erster Diener des Staates', und dem Gefühl, 'Beauftragter', ja "Werkzeug' einer Verkündigung oder eines Werkes zu sein, handelt es sich nicht um unverbindlich poetische Wendungen, sondern um die schlichte, sachliche Beschreibung dessen, was hier gemeint ist. Ein Dienender aber hat gehorsam zu sein.
Diesen Gehorsam, - nicht das dumpfe, willenlose Sich-ducken eines Sklaven unter eine fremde Willkür meint Meister ECKHARD, wenn er [in den Reden der Unterscheidung] 'vom wahren Gehorsam' spricht. ... [Weitere bedeutende Äußerungen hierzu finden sich in GOETHEs Gesprächen mit ECKERMANN, auch bei BEETHOVEN.]
Also selbst hier, im Bereich des tätigen, schaffenden Lebens, wiederholt sich das umgekehrte Verhältnis zwischen Selbstherrlichkeit und Fruchtbarkeit, ... . Die größere Selbstherrrlichkeit ist zweifellos demjenigen Handeln zuzuschreiben, das einen frei ausgesonnenen Plan unbekümmert um sachliche Ordnungen, wenn nötig, 'über ihre Leichen', in die Wirklichkeit zu zwingen strebt [z. B. KRETSCHMER 1926, S. 204/205].
Es ist kennzeichnend für den Geist der sich ihrem Ende zuneigenden abendländischen 'Neuzeit', daß diese Möglichkeit des menschlichen Geistes und Willens ernsthaft als deren eigentliches und unentrinnbares Wesen betrachtet werden konnte [KLAGES 1933]. Aber die Geschichte bestätigt die Aussprüche der Weisen, indem sie beweist, daß nur dienendes Wirken fruchtbar und von Bestand ist, während das 'selbstherrliche' >entweder< statt zu neuer Ordnung zu teuflischer Zerstörung und Verwüstung führt [,wenn es sich] >oder sich< [nicht] mehr und mehr auf eine rein theoretische Verehrung des 'Ideals' oder auf den bloßen Schein der Erfüllung zurückzieht."
Der Bezug zu seiner ureigensten schwachen Seite, der Sehnsucht nach Geborgenheit in einer "natürlichen Ordnung", im "tiefsten Sinn" von "Sachlichkeit", ist noch erkennbar, wo er überzeugend den ethischen Kern der Gestalttheorie ausformuliert. Aber könnte es anders sein? Gibt es glaubwürdige menschliche Stärken, ohne daß auch die ihnen ihren Sinn verleihenden Schwächen darin ihren Ausdruck finden? 7 "Ein Dienender aber hat gehorsam zu sein", sagt er. Aber zum "Gehorsam" im gemeinten Sinne bedarf es "wacher Sinne", um "spüren" zu können, was die "natürliche Ordnung" fordert. Das Gegenstück zu diesem "Gehorsam" ist die "Selbstherrlichkeit", die er keinesfalls wie Ludwig KLAGES (dessen psychologischen Schriften er im übrigen durchaus einiges abzugewinnen vermag) als unentrinnbares Wesen des menschlichen Geistes und Willens anzuerkennen bereit ist. Denken und Wollen ist für METZGER keine Wurzel menschlicher Selbstzerstörung, so wenig wie "Führerbegabung", sondern zerstörerisch nur im "'selbstherrlichen' Wirken", das "unbekümmert um sachliche Ordnungen" einen "ausgesonnenen Plan" über Leichen erzwingen will, und so nicht zu neuer Ordnung, sondern "zu teuflischer Zerstörung und Verwüstung führt".
Hat es denn ja auch. Davor vermochte freilich METZGERs selbstverleugnend-versöhnlicher, ja vielleicht - um eine Charakterisierung seines Sohnes Tilman zu verwenden - "durch und durch toleranter" Vorschlag, man möge das "selbstherrliche Wirken" doch auf "rein theoretische Verehrung" oder auf den "bloßen Schein" zurückstutzen, nicht zu bewahren. Aber er hat dies mit seinen Mitteln (und nicht nur mit Schreiben, sondern auch in der Praxis, z. B. in der schon erwähnten Erziehungsberatungsstelle) zu bewirken versucht, bei denen, die er als Psychologieprofessor erreichen konnte. Es war sein Weg, ein "guter Hirte" zu sein, über den er in seiner ersten von insgesamt 18 Predigten als informeller evangelischer Hilfspfarrer in Freckenhorst, wohin er mit seiner Familie aus dem brennenden Münster evakuiert worden war, am 6. Mai 1946, dem Sonntag Misericordias Domini, sagt:
"'Ich bin der gute Hirte', so spricht der Heiland zu allen, die an ihn glauben. ... Nur wer zu dem bereit ist, was der gute Hirte selbstverständlich tut, wer nicht mehr um sein eigenes Leben und seine Sicherheit, um sein Wohlergehen, um seinen guten Namen besorgt ist, der geht den Weg, den ich gehe, auch wenn er sein Leben nicht wirklich dabei lassen muß, und durch die Leiden hindurch muß, die ich im Garten Gethsemane, vor Hammas und Kaiphas, vor Herodes und Pilatus, auf der Schmerzensstraße und am Kreuz erlitten habe. ... Sich durch Undank nicht kränken lassen, sich durch Anmaßung nicht beirren lassen, das ist oft nicht viel leichter, als auf sein leibliches Leben ganz zu verzichten. ... Sich ... nicht zur hoffnungslosen Verzweiflung treiben zu lassen, sondern wie Jacob zum Herrn sprechen: ... Ich bringe weiter die Frucht, die Du erwartest. Ich glaube und arbeite, daß uns das je und je gelinge. Dazu helfe uns der gnädige Gott. Amen"
Zunächst einmal bitte ich, mir, einem Pfarrersohn, der bis zu seinem 22. Lebensjahr selbst einige Male auf der Kanzel stand, zu verzeihen, daß ich auf dieses Zitat nicht verzichten mochte. Es scheinen mir allerdings auch zumindest zwei gute Gründe dafür zu sprechen: erstens, daß es sich hier um ein Zitat aus einem unveröffentlichten Text METZGERs handelt; zweitens, und das erscheint mir noch wesentlicher, die große Übereinstimmung dieses Predigtauszugs von 1946 mit dem Zitat aus der "Psychologie" von 1941.
Daß METZGERs Entnazifizierungsverhandlung nur wenige Minuten dauerte, und zwar durch die Intervention eines jüdischstämmigen deutschen Emigranten, des Psychologen und ADLER-Schülers Heinz L. ANSBACHER (der übrigens noch, über 90 Jahre alt, in den USA lebt und zu dem wir über Gerhard STEMBERGER in brieflichem Kontakt stehen), dürfte gut begründet gewesen sein (vgl. dessen METZGER-Nachruf, 1980).
Hiermit betrachte ich meine Überlegungen zur Frage nach der "Wahrheit im Ganzen" Wolfgang METZGERs als abgeschlossen, erspare mir also ein rhetorisches "Playback". Stattdessen noch ein paar ergänzende Überlegungen:
In METZGERs Werk "Schöpferische Freiheit", das über Vorstufen in Artikelform seit 1941 seine endgültige Form 1962 fand, erkennen STADLER/CRABUS (15) m. E. zu recht "seine eigentliche Leistung der Weiterentwicklung der Gestalttheorie". In diesem Werk verbindet sich nämlich offenkundig, prägnanter noch als in der "Psychologie", die Eigenart der Persönlichkeit METZGERs mit dem gestalttheoretischen Gedankengut seiner Lehrer.
Kein anderer Gestalttheoretiker hat wie er die Begriffe "Hingabe", "Fürsorge", "Gehorsam" und "Zug des Ziels" unter Einbeziehung "fernöstlichen" Gedankenguts, des Zen-Buddhismus und des Taoismus (und gar nicht speziell "christlichen", wie es das Predigtzitat vielleicht nahelegen könnte), mit dem tiefsten Sinn dieser Theorie verbunden 8 , auch wenn vieles davon bei WERTHEIMER (vgl. 1945, deutsch: 2. Aufl. 1964; und 1991) schon (vor-)skizziert da zu sein scheint.
Gäbe es diese Unterschiede nicht, könnte man den Verdacht hegen, die Gestalttheoretiker hätten, wie es in der Wissenschaft nicht unüblich ist, voneinander abgeschrieben. Erst indem das, was sie Gemeinsames mitzuteilen haben, im eigentümlichen Gefäß ihrer jeweiligen Persönlichkeit zum Ausdruck kommt, entfaltet sich die außergewöhnliche Überzeugungskraft dieser generationenübergreifenden Forschergemeinschaft. Dies scheint mir nicht belanglos für unser Tagungsthema zu sein, ganz abgesehen davon, daß die Auseinandersetzung mit dem Thema "schöpferische Freiheit", wie METZGER sie begreift, durchweg eine Auseinandersetzung mit unserem Tagungsthema, dem "Problem der Wirkung", ist.
Ich will noch, wie im Programm der GTA-Tagung 1999 versprochen, zu einer speziellen Wirkung METZGERs etwas sagen: Wie schon deutlich geworden sein dürfte, hätte Edwin RAUSCH ohne METZGERs Verbleiben in Deutschland sicher nicht die Universitätslaufbahn als Psychologe eingeschlagen und wäre dann auch nicht in Frankfurt Ordinarius für Psychologie geworden. Nach dem Kriege waren es (trotz GOTTSCHALDT, trotz HECKHAUSEN, trotz WITTE) praktisch aber nur die beiden Psychologischen Institute in Frankfurt und Münster, die unzweifelhaft im Bewußtsein der Verantwortlichkeit gegenüber den emigrierten Begründern der Gestalttheorie weitergeführt wurden. Und so läßt es sich auch kaum als Zufall ansehen, daß die - im formal-rechtlichen Sinne - sieben Gründer der "Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen e.V." (GTA) bis auf zwei Ausnahmen in Frankfurt und Münster Psychologen geworden sind; für die beiden, auf die dies nicht zutrifft, war die Wertschätzung für Wolfgang METZGER ausschlaggebend. Ganz abgesehen von seinen übergreifenden Wirkungen: Die GTA, jedenfalls die - und das mag man einschränkend verstehen - "real existierende GTA", gäbe es nicht, wenn es den Wolfgang METZGER nicht "realexistierend" gegeben hätte, der "den Marsch durch das 'Dritte Reich'" durchgehalten hat.
Und nun noch eine Detailwahrheit, womit der "Esel" denn nicht nur zuerst kam, sondern auch am Schluß kommt: Ich mußte offenbar so alt werden, wie ich bin, und diesen Text verfassen, um vorbehaltlos eine Feststellung wie die folgende treffen zu können: Ich bewundere und verehre Wolfgang METZGER.
Fußnoten:
1 "Wichtigste Hinterlassenschaft" bedeutet konkret: RAUSCH hatte bei WERTHEIMER mit der Promotion begonnen und wurde von dem sechseinhalb Jahre älteren METZGER, der sehnlichst darauf wartete, daß der von ihm hochgeschätzte bedächtige RAUSCH sich endlich entschloß, seine Dissertation als abgeschlossen zu betrachten, weiter betreut. METZGER wollte, daß er sich für die Hochschullehrer-Laufbahn entschied. RAUSCH promovierte 1937 und schloß, als Soldat im Urlaub, 1941 seine Habilitation ab, also bevor METZGER 1942 nach MÜNSTER ging (vgl. PONGRATZ u.a., Bd. 1, 1972, 201 und Bd. 2, 1979, 223). -> zurück zum Text
2 Für eine ausführliche Würdigung von METZGERs wissenschaftlichem Werk verweise ich auf STADLER und CRABUS (1986, 7-26). Das haben die beiden sehr gut gemacht. Eine Differenz zwischen STADLER und mir, die darin besteht, daß STADLER (vgl. STADLER & KRUSE, 1986) im Gegensatz zu mir (vgl. WALTER, 1988) eine Nähe METZGERs zu dem seit einigen Jahren populären "radikalen Konstruktivismus" behauptet (auch unter dem Namen "Au-topoiese" bekannt, aus Unkenntnis auch oft, besonders in psychotherapeutischen Kreisen, als "die" Selbstorganisationstheorie oder gar "die" Systemtheorie bezeichnet), kommt in dieser Würdigung nicht zum Vorschein. -> zurück zum Text
"Im Jahr 1938 kam eines Tages unser siebenjähriger Sohn aus der Schule und erklärte: 'Die Juden sind alle böse Menschen. Das hat unser Lehrer gesagt.' Er war sehr erstaunt und ein wenig beschämt, als er erfuhr, daß einige der Studenten, die damals noch in unserem Haus verkehrten und die er sehr schätzte, Juden waren." -> zurück zum Text
4 ASH (1995, 347) irrt sich übrigens mit der Behauptung, METZGER sei katholisch gewesen. Er war ebenso wie seine Frau, eine Pfarrerstochter, evangelisch. Zeitweise war er, wie Tilman und Ute berichten, aus ihnen unbekannten Gründen aus der Kirche ausgetreten. -> zurück zum Text
5 Nach der Wiedervereinigung Deutschlands tönten allerdings und tönen noch immer erneut die Hüter der "political correctness", die das offenbar nicht begreifen. Das Höflichste, was ich über sie vermuten kann, ist Naivität; aber auch Naivität ist zum Kotzen in einer Welt, in der jedes engagierte Bemühen um Sauberkeit nur im Dreck beginnen kann. -> zurück zum Text
6 In den späteren Auflagen (237/8) ist der Text sprachlich leicht verbessert (ohne die geringste inhaltliche Veränderung) und durch Literaturhinweise ergänzt. Ich zitiere hier bewußt aus der 1941er Ausgabe, mache aber die Unterschiede kenntlich: [...] bedeutet spätere Veränderung, >...< bedeutet "zur Veränderung nicht mehr passende Worte der ursprünglichen Fassung"; letzteres kommt nur im letzten Absatz des Zitats vor; an allen vorangehenden Stellen bedeuten "eckige Klammern" lediglich die spätere Einfügung von Literaturhinweisen, deren Fehlen in der ersten Auflage METZGER im neuen Vorwort begründet. -> zurück zum Text
7 Es ist wohl überhaupt so, daß der Kern der Gestalttheorie sich nur denen wirklich erschließt, die sie als Herausforderung zur persönlichen Weiterentwicklung und Bewährung begreifen, und die sich dieser Herausforderung im Studium wie in der psycho-therapeutischen Ausbildung wirklich stellen, statt sich ihrer nur als Mittel zu bedienen, Wissensprüfungen zu bestehen oder sich als bessere Wissenschaftler zu beweisen. -> zurück zum Text
Ein solcher Vergleich (unter Einbeziehung auch LEWINs, KOFFKAs und von Schülern der Gründergeneration) wäre eine eigene Arbeit, wäre aber ohne die Scheu vor psychologisierenden Rückschlüssen auf die dahinter stehenden Charaktere ein spannendes Unterfangen. -> zurück zum Text
Literatur:
Fotos von Wolfgang Metzger: (vergrößern durch Anklicken)